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Die vergessenen Provinzen Indonesiens

von Quentin Mayerat

Indonesien ist auf der Weltkarte der Surfspots in den 70er-Jahren erschienen und hat sich neben Hawaii schnell als zweites Mekka der Disziplin etabliert. Doch heute, 40 Jahre danach, ist Indonesien und ganz besonders Bali Opfer seines Erfolgs geworden. Seine Wellen auf den Mentawais-Inseln in Sumbawa und Lombok sind meist völlig überfüllt.

Die Klippen an der Südostküste der Insel Sumba. © Benjamin Thouard

Carine und ich wünschen uns eine etwas einsamere Spielwiese und suchen deshalb nach einer Möglichkeit, auf die Inseln Westtimors zu gelangen. 2001 trat Timor die östlichste Provinz ab, erhielt dadurch seine Unabhängigkeit und wurde so zur jüngsten Nation der Welt. Gegenüber Kupang, der westlichen Hauptstadt, reihen sich unzählige Inseln aneinander, die aufgrund ihrer Lage grossen Surfspass versprechen. Sie bieten einen Südostpassat und Wellenbewegungen aus dem Süden von Mai bis September und damit die besten Voraussetzungen für unsere Lieblingssportarten Windsurfen, Kitesurfen und Stand up Paddling. Die Fähren, die die grössten indonesischen Inseln miteinander verbinden, fahren nur selten dorthin. Also müssen wir unser eigenes Boot finden, was sich als gar nicht so einfach herausstellt.

Dank der Mundpropaganda unter Reisenden, die den Google-Jüngern zum Trotz noch immer die beste Informationsquelle ist, hören wir von Xavier Pithon. Suchen Sie ihn nicht auf Facebook, dort finden Sie ihn auf keinen Fall. Wer mit ihm Kontakt aufnehmen will, muss schon eher auf „Coconut Wireless“ zählen. Xavier kam vor 20 Jahren nach Indonesien. Fasziniert von den eleganten Linien der indonesischen Boote, liess er sich auf Sulawesi nieder, wo er alles über ihre Herstellung lernte. Die Insel ist die Wiege dieser traditionellen Bootsbauerkunst und auch der indonesischen Marine, deren abenteuerlustigste Vertreter schon im 7. Jahrhundert nach Madagaskar segelten.

Xavier baute dort sein erstes Boot. Kein einziges Metallstück hat er dazu verwendet, sondern sich bei der Konstruktion seiner Pinisis an überlieferte Methoden gehalten. Nach einem alten Brauch fragte er den Baum, ob er damit einverstanden sei, ein Boot zu werden. Boote gelten als Personen, weshalb ihre Geburt auch mit einem feierlichen Akt begangen wird. Die Mitte des Kiels (der Bauchnabel) wird von einem „Priester“ markiert, der darüber ein Huhn ausbluten lässt. Dann nehmen alle Gäste ein Mahl an Bord ein. Abschliessend wird am Masttopp eine Kokospalme angebracht, die Stürme abhalten soll.

Kurs nach Westen

Es ist bestimmt dieser Schutz, der es Xavier, dem Steuermann Yann und dem Kanaken Michel ermöglicht, mit ihrer prachtvollen Zirbad und deren 60 Fuss Breitseite am vereinbarten Tag vor der Insel Rote festzumachen.

Unter den skeptischen Blicken der Crew, die sich zu fragen scheint, wie man nur so viel Material mit sich herumschleppen kann, verstauen wir unsere Säcke. Wir fahren in Richtung Westen. Zirbad ist majestätisch und unter Grosssegel und Stagfock mit einem gelben Mast und einem knallroten Baum wunderbar bunt. In den ersten 24 Stunden der Überfahrt zur Insel Savu haben wir Zeit genug, uns an das Boot zu gewöhnen. Das Vorwindtempo ist genau richtig, sodass wir uns alle wohl fühlen. Yann hat am Steuer stets ein Auge auf das GPS gerichtet und verkündet die Geschwindigkeit des Bootes wie ein Trader die Börsenkurse: „9, 6…10, 10,5…10,7…11 Knoten!!!!“ Das ist neuer Rekord! Xavier schweigt, man sieht ihm aber an, dass er sich so seine Gedanken macht.

Vor der Insel Savu wollen wir unseren ersten Liegeplatz aufsuchen. Wir bahnen uns einen Weg durch eine schmale Durchfahrt und erreichen eine Lagune mit einem langen, weissen Sandstrand. Carine ist begeistert. Eine Reihe Kokospalmen wiegt sich im auflandigen, bis zu 20 Knoten starken Passatwind.

Allein auf der Welt

Lou und ich haben es uns angewöhnt, im geräumigen Achterbereich zu schlafen. Dort können wir die Sterne beobachten und werden am Morgen als erste von den Sonnenstrahlen geweckt. Ich werfe einen Blick auf das Riff, um die Höhe der Wellen einzuschätzen. Ich weiss, dass der Wind sehr früh aufkommt und möchte die Morgenstunden nutzen, um die herrlichen Linkshänder (Wellen, die von links nach rechts laufen) zu surfen. Keine Menschenseele weit und breit. Die einsamen Wellen, nach denen wir gesucht haben, empfangen uns mit offenen Armen. Als ich gerade ins Wasser will, macht mich Jérémie auf eine Vielzahl schwarzer Rückenflossen aufmerksam. Für ihn besteht kein Zweifel, es muss sich um Haie handeln. Ich habe es plötzlich nicht mehr so eilig ins Wasser zu kommen. Die Flossen haben eine beachtliche Grösse, stutzig macht mich aber ihre Anzahl, denn mit Ausnahme von Hammerhaien sind diese Raubfische nur selten in Schwärmen unterwegs. Da ich aufrecht stehend auf meinem Stand Up sicherer bin als liegend auf einem Surfbrett, werde ich als „Freiwilliger“ abkommandiert, um mir ein genaueres Bild zu verschaffen. Je näher ich komme, desto schöner ist der Anblick. Ein Dutzend riesige Mantarochen gleiten wie fliegende Untertassen knapp unter der Oberfläche durchs Wasser. Wenn sie auftauchen, bilden ihre nach oben gebogenen Seitenflossen eine perfekte Rückenflosse wie die eines Hais – daher auch die Verwechslung. Ich gebe den anderen ein Zeichen, dass alles in Ordnung ist. Fünf Minuten später surfen Corinne und Jérémie inmitten der breiten, schwarzen Flecken. Unser Fotograf Benjamin kann sie fast berühren. Die Welle ist hohl und lang, das Wasser glasklar und das Unterwasserspektakel unvergesslich.

Kurs nach Westen, zu Raijua, Dana und den Inseln vor Sumba, die voller einsamer Spots und unberührter Landschaften sind. Ein paar Tage später erreichen wir die Insel Komodo, wo wir Zirbad verlassen und den zweiten Teil unserer Reise nach Westpapua beginnen. Wir tauschen die Stille des Segelboots gegen das ununterbrochene Knattern eines Motors ein.

Die noch junge Algenzucht ist zu einem Pfeiler der Lokalwirtschaft geworden. Davor beruhte diese sie fast ausschliesslich auf Fischerei. © Benjamin Thouard

Die letzte Grenze

Zirbad am Ankerplatz in einer Bucht der Insel Sumba. © Benjamin Thouard

Das „andere“ Papua, einst Irian Jaya genannt, wurde 1969 dem grössten Archipel der Welt angegliedert. Nach brutalen Repressionen fälschte die indonesische Zentralregierung das Abstimmungsergebnis über die Souveränität der Insel, um ihre Angliederung zu sichern. Heute ist Papua zwar das Armenhaus Indonesiens, aber seine natürlichen und kulturellen Reichtümer machen es zu einem der letzten verborgenen Schätze unseres Planeten.

Auf der Suche nach Wellen machen wir zahlreiche neue Entdeckungen. Genau das lieben wir an unserem Trip. Er soll uns mehr bieten als Wind und Wellen und uns neue Horizonte öffnen. Und tatsächlich: Am Ende ist die Erfahrung stets intensiver, stärker und reicher als erwartet. Die Reise nach Papua ist die Erfüllung eines Kindheitstraums. Wir wollten schon immer Menschen begegnen, die noch leben wie nach der Entstehung der Welt, in totaler Harmonie mit ihrer natürlichen Umwelt.

In Nabiré im Norden der Insel treffen wir unseren amerikanischen Reiseführer Kelly Woolford. Kelly arbeitet seit über 20 Jahren in Papua. Der leidenschaftliche Hobby-Ethnologe und Fan weiter Flächen durchstreift den Dschungel auf der Suche nach einheimischen Stämmen. „Ich bereite mich auf ein einmaliges Erlebnis vor. Ich suche nach dem Debra-Stamm, den nur meine goldsuchenden Kontaktpersonen gesehen haben. Es sind Nomaden, ich kann also nicht garantieren, dass wir sie wirklich sehen, auch wenn ich meine Kundschafter einige Tage vor unserer Ankunft vorausschicken werde“, erklärt er uns.

Im Morgengrauen fahren wir mit einem Motorboot sechs Stunden lang die Küste bis zur Mündung des Memberano hoch. Nach weiteren langen Stunden erreichen wir schliesslich das letzte Dorf, wo wir die Nacht verbringen.

Am nächsten Tag setzen wir unsere Flussfahrt in aller Früh fort. Je weiter wir vordringen, desto schmaler wird der Flusslauf. Wir müssen uns zwischen Baumstämmen durchschlängeln, während die kräftigen Geräusche des Dschungels zu uns vordringen. Mit weit aufgerissenen Augen schaut Lou dem Tanz der Kakadus, Fledermäuse und Tukane über unseren Köpfen zu. Am Ufer lauern Krokodile. Endlich erreichen wir den letzten Flussarm. Er ist zu eng für unser Boot, sodass wir auf eine kleine Piroge umsteigen, die vom Motor einer Elektrosense angetrieben wird.

Die Papua und wir

Carine Camboulives profitiert von der seichten Lagune und dem konstanten Passatwind in der Region. © Benjamin Thouard

Vom schlammigen Ufer aus sind keine Papua zu sehen. Kelly ist etwas beunruhigt. Kaum haben wir unser Lager errichtet, bricht ein sintflutartiger Regen über uns nieder. Wir können uns nicht einmal mehr verständigen! Die Zeit scheint still zu stehen. Was tun wir hier? Wie lange wird das dauern? Plötzlich erhellt ein Lächeln Kellys Gesicht. Sein Kundschafter ist zurück und meldet, dass die Debra kommen.

Wir erspähen einen Teil des Stamms und trauen uns nicht, uns von der Stelle zu bewegen. „Gehen wir jetzt zu den Papua oder nicht?“ ruft Lou ungeduldig. Wir gehen ihnen entgegen. Kelly stellt uns zuerst ihren Anführer vor, danach schütteln wir in heiliger Stille alle kleinen und grossen Hände. „Makalido!“ (Guten Tag). Sie stehen versammelt vor uns. Die Frauen tragen Röcke aus getrockneten Pflanzenfasern, die Männer Kopfbedeckungen aus Vogelfedern. Ihre Nasen sind von einem Knochen durchbohrt und in den Händen halten sie Lanzen und Bogen. Es herrscht eine emotionsgeladene Atmosphäre. Wir betrachten uns gegenseitig von Kopf bis Fuss. Lou fühlt sich deutlich wohler. Sie macht einen Schritt auf den Stammesführer zu, um sich seine Jagdtrophäen – Schweinsschwänze, Vogelkrallen und Krokodilzähne – näher anzuschauen. Die Papua quittieren ihre Grimassen mit einem Lächeln. Sie haben uns angenommen.

© Benjamin Thouard

Im Lager geht das Leben weiter. Wie Schatten folgen wir fasziniert unseren Gastgebern. Blutegel und Riesenspinnen sind völlig vergessen. Am besten bewegt man sich im schlammigen Urwald barfuss und leicht bekleidet vorwärts. Wir beteiligen uns an all ihren „Überlebenstätigkeiten“, bereiten den Sago vor, der ihnen als Nahrungsgrundlage dient, kosten lebende Würmer und Käfer und bauen Vogelfallen. Die Männer halten stets diskret ein Aug auf Lou, die mit dem Schwein spielt. Letzeres gilt als Kind des Stammes und wird von den Frauen oft an der Brust genährt.

Unglaublich, in welchem Ausmass die Papua im Einklang mit der Natur leben. Sie bietet ihnen ein Zuhause und ernährt sie. Ein besseres Beispiel für die hochaktuelle Umweltneutralität gibt es wohl kaum. Unser ganzes Sammelsurium scheint uns plötzlich lächerlich. Unvorstellbar, aber wahr: Alles, was wir ihnen bringen, ist gleichsam eine Verschmutzung. Genauso unvorstellbar ist der Gedanke, dass wir uns schon bald wieder verabschieden müssen.

Expeditionen in Papua : www.papua-adventures.com

Törns in Indonesien mit Xavier Pithon : kapalsamasama@yahoo.com

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