Eine Insel, eine Geschichte
Für die einen ist Spitzbergen ein Berg, für die anderen ein unbekannter Landstrich. Präzise ausgedrückt ist Spitzbergen die Hauptinsel des norwegischen Svalbard-Archipels zwischen der Nordküste Norwegens und dem Nordpol. Zwei Drittel des Verwaltungsgebiets Svalbard sind mit einer dicken Eisschicht bedeckt. Fast das ganze Jahr werden die Küstengebiete des Archipels vom Packeis des Nordpolarmeers beherrscht. Einzig der Westküste Spitzbergens, die unter dem Einfluss des warmen Golfstromes steht, können die Launen der eisigen Massen nichts anhaben. Es könnte zwar sein, dass die Wikinger Spitzbergen bereits im 12. Jahrhundert aufgesucht haben, entdeckt wurde die Insel jedoch vom niederländischen Seefahrer Willem Barents, der 1596 auf der seither nach ihm benannten Barentssee unterwegs war. Es folgte eine gnadenlose Plünderung der biologischen Schätze durch Seeleute, Harpunenfischer, Jäger und Trapper, bei der unzählige Bären niedergemetzelt und die Wale gefährlich dezimiert wurden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Morden um des Profits willen vom Bergbau abgelöst. Tatsächlich hielten die eisbedeckten Berge Hunderttausende Tonnen Kohle in ihrem Schoss verborgen. Heute tragen auch die wissenschaftlichen Forschungen und der Fremdenverkehr zum wirtschaftlichen Wachstum dieses Archipels im Hohen Norden bei. Die Gegend ist nur sehr spärlich besiedelt. Knapp 2500 Menschen teilen sich den Lebensraum mit über 6000 Eisbären. Sie las-sen sich weder vom langen, dunklen Winter noch von der Abgeschiedenheit abschrecken.
Eintauchen in die Polarwelt
Wir gehen gleich nach der Landung an Bord eines fünfzehn Meter langen, speziell für das Segeln im Eis gebauten Boots. Die Abfahrt steht kurz bevor. Am folgenden Tag verlassen wir den Isfjord Richtung Norden. Das Meer scheint es etwas zu gut mit uns zu meinen; ein Nordoster aus Richtung Nordpol peitscht uns ins Gesicht. Kaum ist das Gross gesetzt, bereuen unsere Mägen den schlechten Kaffee, den wir ein paar Minuten zuvor in aller Eile hinuntergestürzt haben. Auf Backbordbug segeln wir mit über 7 Knoten auf einem im Abendlicht funkelnden Meer
– unsere Uhren aber zeigen 23 Uhr an! Da wir für die Nacht offensichtlich keinen geschützten Ankerplatz mehr auftreiben können, müssen wir Wachablösungen organisieren. Die Mitternachtssonne erhellt die gigantischen Gletscher, die in Form von kleinen Eisbergen ins golden schimmernde Meer kalben. Weitere, ebenso gigantische Eiskolosse driften in wärmere Breiten, wo sie sich allmählich in Nichts auflösen. Der Anblick verschlägt uns den Atem.
Magdalenefjorden
Es ist wieder Ruhe eingekehrt. Im Rhythmus des surrenden Dieselmotors fahren wir in den Magdalenefjord hinein. Die Bucht gilt als einer der schönsten Flecken der Insel. Vier, von Felsenspitzen eingerahmte Gletscher lassen ihre Arme ins spiegelglatte Meer strömen. Hier lässt sich gut ankern und der Whisky schmeckt nach 30 Stunden Segeln besonders gut. Wir haben kaum Zeit, uns die vor Kälte erstarrten Beine zu vertreten, als der sehnlichst erwartete Wind aufkommt. Nur nichts überstürzen! In diesen Breiten will auch ein noch so kurzer Landspaziergang vorbereitet sein. Schliesslich geht es ums Überleben! Auf eine Begegnung mit einer dieser haarigen, gelblichweissen Ungeheuer können wir gut verzichten, vor allem dann, wenn es womöglich gerade ein paar Fastentage hinter sich hat. Zu unserem Wohl
– und dem des Bärs – müssen wir wohl oder übel die nötigen Vorsichtsmassnahmen treffen: Wir laden ein Gewehr und packen diverse Knallkörper und Schreckschusswaffen ein. Dann zwängen wir uns bis auf die Zähne bewaffnet in das dreiplätzige Gummiboot, das uns zum nächstgelegenen Kiesstrand bringt. Die von der Brandung angespülten Eisklumpen verursachen ein eigenartig klirrendes Geräusch. Einmal mehr lassen wir Vorsicht walten und verstecken unsere wasserdichten Rettungsanzüge. Sollte ein Vertreter aus der Familie der Bären auf unser Boot aufmerksam werden und es für ein Spielzeug halten, würde wahrscheinlich nicht viel davon übrig bleiben. Der Empfang fällt nicht gerade freundlich aus. Aggressive, zwischen den Kieselsteinen nistende Küstenseeschwalben stürzen sich mit lautem, schrillen Geschrei auf unseren hühnenhaften Skipper, um ihr Gelege zu verteidigen. Wir lassen die Furien schnell hinter uns. Etwas weiter machen wir Bekanntschaft mit einem Svalbard-Ren, dem einzigen Pflanzenfresser des Archipels, und begegnen einem Polarfuchs. Langsam, alle Sinne in höchster Alarmbereitschaft, setzen wir unseren Weg fort. Der teilweise eisfreie Boden ist mit kleinen, bunten Blumen übersät, die im kurzen arktischen Sommer wie fröhlichen Farbtupfer wirken. Zurück im Segelboot hieven wir den Anker und peilen den Waggonway-Gletscher an. Langsam aber sicher wird die Navigation zum Geschicklichkeitsspiel. Um den Steuermann bei seiner heiklen Aufgabe zu unterstützen, setzt sich ein Freiwilliger vorne an den Bug. Gemeinsam gelingt es ihnen, sich zwischen den scharfkantigen, blau schimmerden Eisschollen hindurchzuschlängeln. Schling! Gling! Plotsch! Knirschend und krachend pflügt sich der Bootsrumpf einen Weg durch Tausende von Eistrümmern, in denen sich das einzigartige Polarlicht spiegelt. Geblendet von dem gleissenden Licht reissen wir die Augen weit auf, wir wollen uns keine Sekunde dieser grossartigen Szenerie entgehen lassen. Über unseren Köpfen schweben Krabbentaucher, hin und wieder krachen die azurblauen Eishöhlen der Gletscherfront mit ohrenbetäubendem Getöse in sich zusammen. Die Zeit steht still, wir kommen aus dem Staunen kaum noch heraus. Bär haben wir aber immer noch keinen zu Gesicht bekommen.
Endlich!
Der Himmel ist gnädig. Eine leichte Brise aus Süden hilft uns, den 80. nördlichen Breitengrad zu erreichen. Nur knapp tausend Kilometer trennen uns vom Pol. “Nehmt eure Feldstecher”, ruft unser Skipper, während wir in den Woodfjord hineinsegeln. An der Nord- und Ostküste sollen die Chancen (oder Risiken, je nachdem), einem Ursus maritimus zu begegnen, nämlich am grössten sein. Zu fünft suchen wir die zerklüftete Uferlandschaft nach einer verdächtigen Bewegung ab. Unsere Augen bleiben an einem Stein haften. Ein Stein? Er bewegt sich! Es ist tatsächlich ein Bär. Hastig werden die Segel geborgen und der Motor angeworfen. Wir steuern direkt auf das Tier zu. Den Eisbären scheint unsere Anwesenheit nicht zu interessieren. Gemächlich und schnüffelnd streift er auf einem kleinen Eiland des Fjords scheinbar ziellos umher. Wir können es kaum fassen: Nur wenige Meter vor uns ist er, unser “Gastgeber”. Eigentlich wird dringend davon abgeraten, sich den Eisbären auf mehr als 300 m zu nähern. Da wir jedoch in einem Boot sitzen und hier relativ sicher sind, können wir gegen diese Regel verstossen. Der Eisbär ist riesig, gigantisch! Er ist das grösste Landraubtier und bestimmt das einzige, das Menschen angreift, um sie genüsslich zu verzehren. Gut genährte Männchen können bis zu 800 Kilo schwer und 2,60 m gross werden. Sie sind mit übernatürlichen Kräften ausgestattet und können hervorragend schwimmen. Es wurden schon Eisbären gesichtet, die über 100 km von der Küste entfernt auf dem offenen Meer schwammen! Leider soll es den Eisbären pessimistischen Prognosen zufolge schon bald nicht mehr geben, da sein bevorzugtes Jagdgebiet – das Packeis – durch die Klimaerwärmung zusehends schmilzt.
Kurs in Richtung Süden
Auf dem Weg zurück nach Longyearbyen, dem Hauptort Svalbards, werden wir vom Glück verwöhnt. Wir fahren vorbei an Bartrobben, die sich faul auf Eisschollen räkeln, bekommen die behäbigen Walrosse der Inseln Prinz Karl Forland zu sehen und begegnen einem ungewöhnlichen Team polnischer Gletscherforscher. Besonders auffällig ist ihre Unterkunft: Zu acht zwängen sie sich in eine winzige Hütte, die uns in die Zeit der Trapper und der Abenteuer von Jack London zurückversetzt. Es ist unser letzter Tag. Die traumhafte Landschaft versinkt in dicken Nebelschwaden. Das hilft, uns von einem der letzten Naturparadiese zu lösen.